'Der Friede von Boisheim'

Geschichte der kommunalen Neugliederung

Der „Friede von Boisheim“ und wie es dazu kam

Am 1. Januar 1970 wurde durch das Gesetz zur Neugliederung des Kreises Kempen-Krefeld und der kreisfreien Stadt Viersen vom 18. Dezember 1969 unter anderem die „neue“ Stadt Viersen begründet – im Kern bestehend aus der kreisfreien Stadt Viersen, der Stadt Dülken einschließlich Boisheim, da bereits 1968 mit Dülken vereinigt, und der Stadt Süchteln mit Hagen und Clörath. Am 1. Januar 2020 jährt sich der Zusammenschluss zum 50sten Mal. Marcus Ewers vom Kreisarchiv Viersen wirft aus diesem Anlass einen Blick zurück auf die „Gründerjahre“.

Viele Jahrhunderte hatten die Gemeinden Viersen, Dülken, Süchteln und Boisheim verschiedenen Landesherrschaften angehört. Während über die drei letztgenannten die Herzöge von Jülich herrschten, hatte Viersen den Herzögen von Geldern unterstanden. Dülken und Süchteln hatten Stadtrechte – Viersen lange nicht. Obgleich diese historischen Faktoren einem Zusammenwachsen eher entgegenwirkten, nivellierte die Geschichte des 19. Jahrhunderts doch viele Gegensätze zwischen den Kommunen.

Ressentiments zur Nachbarstadt

Während in manchen alteingesessenen Familien liebevoll das Ressentiment zur Nachbarstadt gepflegt wurde – eine Tatsache, die sich selbst heute noch auf den Karnevalsveranstaltungen in Dülken, Süchteln und Viersen gut beobachten lässt – standen die zahlreichen Neubürgerinnen und Bürger, die im Zuge der Industrialisierung in die Städte zogen, diesen alten Gegensätzen eher gleichgültig gegenüber. Auch die gemeinsame Straßenbahn, die „Vereinigte-Dreistädte-Zeitung“ und Zweckverbände führten zur Ausbildung eines gewissen Zusammengehörigkeitsgefühls.

Überlegungen, aus den drei Kommunen ein neues, größeres Gemeinwesen zu schaffen, kamen erstmalig 1926 auf. In Viersen, das damals noch zum Kreis Gladbach gehörte, sah man die Gelegenheit gekommen, mittels eines Zusammenschlusses mit Dülken und Süchteln die Kreisfreiheit zu erlangen. Das Vorhaben scheiterte im März 1928 an entsprechenden Ratsbeschlüssen. Der damalige Viersener Bürgermeister Dr. Gilles formulierte, dass weitere Verhandlungen angesichts „der bestehenden Widerstände, die mehr oder weniger einer gefühlsmäßigen Einstellung zu der ganzen Frage entspringen“, vorläufig keine Aussicht auf Erfolg hätten.

„Zusammenschluss notwendig“

Mehr als 35 Jahre vergingen, bis die Frage einer kommunalen Neugliederung erneut auf die Tagesordnung der Politik gesetzt wurde. Im Oktober 1966 forderte der Innenminister die Oberkreisdirektoren auf, über ihre Vorstellungen zu einer kommunalen Neugliederung zu berichten. Die Notwendigkeit wurde damit gegründet, „dass die Erfüllung der gemeindlichen Aufgaben die Verwaltungskraft der Klein- und Kleinstgemeinden [...] vielfach übersteigt und das vor allem bei den Einrichtungen der Daseinsvorsorge.“ In den daraufhin formulierten Vorschlägen des damaligen Oberkreisdirektors Rudolf H. Müller waren Dülken und Süchteln neben Osterath die einzigen Städte, die laut dessen Plänen stark genug waren, allein weiterbestehen zu können.

Doch offenkundig hatte man in Düsseldorf weitergehende Vorstellungen: Am 13.3.1967 trat Rudolf H. Müller als „Sprachrohr des Innenministers" vor die versammelten Bürgermeister und Hauptgemeindebeamten und ließ keinen Zweifel daran, dass er die angedachten Lösungen für „extrem'' halte. Man sei, so führte er aus, bei den Überlegungen im Innenministerium davon ausgegangen, dass Viersen nicht zu Mönchengladbach kommen solle, sondern zum Kreis Kempen. Unverantwortlich wäre dann aber, drei komplette Verwaltungen in direkter Nachbarschaft zu unterhalten. Der Zusammenschluss mit Dülken und Süchteln sei daher notwendig. Diese Bemerkung des Oberkreisdirektors ging beinahe im allgemeinen Gelächter unter. Doch es war ein ratloses Gelächter.

Allgemeine Ratlosigkeit

Diese Ratlosigkeit zeigt sich dann auch bei den ersten Zusammenkünften der Kommunalpolitiker der drei beteiligten Städte – man einigte sich nach einigen kontroversen Diskussionen darauf, ein Gutachten in Auftrag zu geben. Das sogenannte „Wibera-Gutachten“ brachte jedoch kein klares Votum – eine Empfehlung für einen Zusammenschluss wurde nicht ausgesprochen.

Im Januar 1968 trat Dülken aus seiner abwartenden Rolle heraus und wandte sich in einer offensichtlich gegen die „Dreistadt“ gerichteten Offerte an seine westlichen Nachbargemeinden Boisheim, Waldniel und Amern. Die beiden letztgenannten Gemeinden hatten sich über ihren Zusammenschluss auf der Grundlage eines Gebietsänderungsvertrages schon so gut wie verständigt und hatten somit einen Weg aufgezeigt, unerwünschten Entwicklungen durch Eigeninitiative vorzubeugen. Auch der Boisheimer Bürgermeister Willi Thoer begrüßte den Dülkener Vorschlag. Schnell wollte man nun Fakten schaffen. Dülken und Boisheim besiegelten am 9.4. 1968 ihren Zusammenschluss.

Während in Dülken solcherlei eifrige Bemühungen unternommen wurden, um etwaigen Düsseldorfer Plänen vorzugreifen, wurden in Süchteln resigniert klingende Stimmen laut, „weil ja doch in Düsseldorf alles längst beschlossen" sei. Dabei sah man insbesondere dem Besuch der „Fliegenden Kommission" unter dem Regierungspräsidenten Hans-Otto Bäumer mit Sorge entgegen. Der Ablauf des Besuches war von langer Hand vorbereitet und schon bei ähnlichen Besuchen in anderen Kreisen erprobt worden. Die Kommission kam mit einem von der Bundeswehr ausgeliehenen Spezialbus mit großen Kartentischen für vier Tage (22.–25.4.1968) in den Kreis. Es wurde dabei sehr schnell deutlich, dass der Regierungspräsident sich nicht nur, wie er sagte, für die Option „Dreistadt“ interessiere – er müsse gestehen, dass er damit auch sympathisiere. Als die Dülkener CDU erklärte, sie sei im Zweifel für die Dreistadt, entgegnete Bürgermeister Heinz Ferschoth im vollen Eifer, dass sich die SPD-Fraktion den Rücktritt vorbehalte. Bei Neuwahlen würde man dann ja sehen, wo die Sympathien der Bürgerinnen und Bürger lägen.

Peter van Vlodrop (1970 Bürgermeister von Süchteln) und Oberkreisdirektor Rudolf Müller

Peter Van Vlodrop, zu dem Zeitpunkt Bürgermeister in Süchteln, nimmt aus den Händen von Oberkreisdirektor Rudolf H. Müller die Ernennung zum Ratskommissar entgegen – was bedeutete, dass er in der neuen Gesamtstadt Viersen, die noch nicht über politische Gremien verfügte, bis zu den Neuwahlen im März 1970 den Stadtrat im Hinblick auf sämtliche Beschlüsse repräsentierte. Foto: Kreisarchiv Viersen

Sondersitzungen

Rasch galt es, sich auf die neue politische Lage einzustellen. Sowohl in Dülken als auch in Süchteln wurden Sondersitzungen des Stadtrates einberufen. Nachdem alles darauf hindeutete, dass die Dreistadt die vom Regierungspräsidenten angestrebte Lösung war, blieb nicht mehr viel Spielraum für Eigeninitiative. Während die Sondersitzung des Süchtelner Stadtrates vom 26.4.1968 noch relativ sachlich verlief und mit 15 Stimmen für die Dreistadt, acht Gegenstimmen und einer Enthaltung mit einem eindeutigen Beschluss endete, schlugen im Dülkener Rat, der zeitgleich tagte, die Wellen hoch. Als sich zeigte, dass die CDU-Fraktion diesmal nicht aufzusplitten war, versuchte die SPD vergeblich, eine Entscheidung zu verhindern. Die Abstimmung begann, in der alle 16 CDU-Ratsherren sowie FDP-Ratsherr Mittlöhner für die Dreistadt stimmten. Die 13 SPD-Ratsherren sowie FDP-Ratsherr Robertz stimmten dagegen. Heinz Ferschoth, der seinen leidenschaftlichen Kampf gegen die Dreistadt verloren sah, trat daraufhin zurück und begründete diesen Schritt damit, dass er der sich anbahnenden Entwicklung nicht im Weg stehen wolle.

Das Votum der Stadträte dürfte Hans-Otto Bäumer gefreut haben. Am 4.5.1968 präsentierte er dem Kreistag den Ergebnisbericht der Kommission. Hierin zeigte er sich besonders beeindruckt „von der in ihren Auswirkungen mit so großer Tragweite behafteten Dreistadtlösung“. Am 13.9.1968 wurde den Gemeinden der konkrete Gesetzentwurf sowie eine Karte mit Beschreibung der neuen Gemeindegrenzen zugeleitet, die für Süchteln Gebietsverluste vorsahen. So sollten Kölsum, Hagenbroich und Windberg Lobberich bzw. Grefrath zugeschlagen werden. Dies traf im Süchtelner Rat auf deutlichen Widerspruch. Man beschloss, mit einer Befragung die Meinung der von der Abtrennung betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner festzustellen. Deren Ergebnis vom 12.10. zeigte, das über 90 % der Befragten bei Süchteln bleiben wollten. Dies führte in der Folge dann auch zu einer weitgehenden Revidierung des Vorschlags.

1 Regierungspräsident Otto Bäumer, 2 Oberkreisdirektor Rudolf Müller, 3 Bürgermeister Dülken Heinz Ferschoth, 4 Stadtdirektor Dülken Dr. Bernd Jartwig, 5 Oberstadtdirektor Viersen Dr. Karl-Heinz van Kaldenkerken, 6 Oberbürgermeister Viersen Dr. Franz Josef Zevels

Sie gehörten zu den Protagonisten der kommunalen Neugliederung Ende der 60er Jahre: Regierungspräsident Hans-Otto Bäumer (1), Oberkreisdirektor Rudolf H. Müller (2), Heinz Ferschoth, Bürgermeister Dülken (3), Dr. Bernd Jartwig, Stadtdirektor Dülken (4), Dr. Karl-Heinz van Kaldenkerken, Oberstadtdirektor Viersen (5), Dr. Franz Josef Zevels, Oberbürgermeister Viersen (6). Fotos: Kreisarchiv Viersen

Neue Grenzverläufe

Neben neuen Grenzverläufen mussten aber auch noch die konkreten Fragen des Zusammenschlusses geklärt und gemeinsame Projekte definiert werden, welche die künftige Stadt zum Wohle aller Stadtteile in Angriff nehmen sollte. Diese Beratungen fanden am 29.10.1968 bei einer Tagung in der Volksschule Boisheim ihren Abschluss. Im sogenannten „Frieden von Boisheim“ wurde dabei im Entwurf des Gebietsänderungsvertrags für das neue Gemeinwesen der Name „Dreistadt“ festgeschrieben.

Einstimmig wurde am 30.10.1968 der Gebietsvertrag sowohl im Viersener als auch im Süchtelner Stadtrat angenommen. In Dülken liefen die Dinge erneut anders. Am 7.11. stimmten dort 17 Ratsherrn für die Dreistadt, 14 dagegen. Der Entscheidung war eine über dreistündige Debatte vorausgegangen, in der die unterschiedlichen Meinungen nochmals zum Ausdruck kamen. Scharf kritisierte Heinz Ferschoth den plötzlichen Umschwung der CDU während des Besuches der Regierungspräsidenten. Die Befragungsaktion „Dülken soll Dülken bleiben" wertete er zudem als ein überragendes Ergebnis, das gegen die Dreistadtbildung spreche. Bei dieser Aktion hatten sich 6212 Bürger für die Dülkener Selbständigkeit ausgesprochen.

Nach Zustimmung der drei Stadträte war der Weg frei für die Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes, welches die Kommunale Neugliederung konkret ausgestalten sollte. Ein Entwurf hierzu wurde am 24.6.1969 veröffentlicht. Er enthielt allerdings zwei Punkte, die insbesondere in Süchteln Widerspruch hervorriefen. Zum einen wurde in § 1 der Name der Stadt mit „Viersen" bezeichnet, zum anderen waren Bedenken des Süchtelner Rates gegen die Grenzziehung nicht berücksichtigt. In einem Schreiben vom 11.8.1969 bat der Süchtelner Stadtdirektor Kemper u.a. auch die Bürgermeister, Fraktionsvorsitzenden und Hauptgemeindebeamten von Viersen, Dülken und Boisheim um ihre Unterstützung.

1968 Vorschlag zur kommunlaen Neugliederung

Bis zur endgültigen Ziehung der Grenzen der neuen Stadt Viersen und des Kreisgebiets entstanden zahlreiche Varianten, wie diese Karte, erschienen am 19. Januar 1968 im Grenzland-Kurier, belegt.

„Dreistadt“ wird zu Viersen

Bei einem Anhörungstermin für die betroffenen Gemeinden am 30.10.1969 in der Burg Brüggen wurden noch einmal alle Hebel in Bewegung gesetzt. Der Erörterungsbedarf war aber so umfangreich, dass Namensfragen und Grenzkorrekturen nur eine untergeordnete Rolle spielen konnten. Am 2.12.1969 fiel dann endgültig die Entscheidung. Der Ausschuss für Verwaltungsreform unter Dr. Stolle beschloss, weitgehend der Regierungsvorlage zu folgen. Diese Entscheidung zeigte augenfällig, wie wenig der Prozess des Zusammenschlusses die Handschrift der Kommunalpolitik trug. Symbolträchtig erhielt das neue kommunale Gebilde nicht einmal den Namen, auf den man sich geeinigt hatte („Dreistadt“), sondern jenen, den Innenminister Weyer favorisierte und den unsere Stadt somit nun seit 50 Jahren trägt – „Viersen".

Obgleich die Entscheidung damit gefallen war, kam es noch einmal zu großer Aufregung, als am 10.12.1969 aus Düsseldorf verlautete, dass man nicht sicher sei, ob das Gesetz noch innerhalb des Jahres verabschiedet werden könne. Noch am selben Tage versammelte sich daraufhin der Süchtelner Stadtrat und schloss sich einhellig der Erklärung von Bürgermeister Van Vlodrop an, dass die damit verbundenen ungeheuren sachlichen und persönlichen Belastungen aller Betroffenen nicht zu verantworten seien. Der Druck blieb nicht ohne Wirkung. Am 15.12.1969 kam man einen entscheidenden Schritt voran, als sich die Landtagsfraktionen darauf einigten, quer durch die Fraktionen über die strittigen Punkte abstimmen zu lassen. Ein Aufatmen ging durch die Verwaltungen, als der Landtag schließlich am 16.12.1969 das Neugliederungsgesetz mit überwältigender Mehrheit doch noch vor Jahresfrist verabschiedete. Der 1.1.1970 wurde somit zum Geburtstag der neuen Stadt Viersen.

historische Postkarte

In den frühen 70er Jahren wurde auch eine Postkarte der neuen Gesamtstadt Viersen gerecht. Quelle: privat

 

 

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