Was keiner sagt, das sag heraus

Neujahrsempfang 2015 der Stadt Viersen am 9. Januar 2015

Rede Bürgermeister Günter Thönnessen

Es gilt das gesprochene Wort.


(Lied Polmans/Brauwers: Was keiner wagt)

WAS KEINER WAGT

 

Was keiner wagt, das sollt ihr sagen.

Was keiner sagt, das sagt heraus.

Was keiner denkt, das wagt zu denken.

Was keiner anfängt, das führt aus.

 

Wenn keiner ja sagt, sollt ihr’s sagen.

Wenn keiner nein sagt, sagt doch nein,

Wenn alle zweifeln, wagt zu glauben.

Wenn alle mittun, steht allein.

 

Wo alle loben, habt Bedenken.

Wo alle spotten, spottet nicht.

Wenn alle geizen, wagt zu schenken.

Wo alles dunkel ist, macht Licht.

 

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

zum Neujahrsempfang der Stadt Viersen darf ich Sie herzlich begrüßen. Ganz besonders begrüßen möchte ich Sebastian Polmans und Timo Brauwers, die den musikalischen Auftakt zum heutigen Abend gegeben haben. Die beiden werden mit ihren nachdenklichen und kritischen Texten auch für meine Rede eine wichtige Rolle spielen. Vielen Dank, Sebastian und Timo, für Eure Bereitschaft, in diesem für Rapper sicherlich unüblichen Rahmen aufzutreten..

Ganz herzlich begrüßen möchte ich den Oberbürgermeister unserer Nachbarstadt Mönchengladbach, Herrn Hans Wilhelm Reiners. Wir werden für die Zukunft unserer Städte vieles nur erreichen können, wenn wir zusammen arbeiten. Ihnen, Herr Reiners, ein ganz herzliches Willkommen. Ich hoffe, dass Sie sich bei uns wohl fühlen.

Last but not least begrüße ich Sie, die Vertreter von Vereinen, Verbänden, Initiativen und Organisationen und natürlich Sie, die Bürgerinnen und Bürger unserer schönen Stadt Viersen.

Ihnen allen wünsche ich ein gutes neues Jahr 2015.

Leider, meine Damen und Herren, hat das neue Jahr keinen guten Anfang genommen. Wir sind entsetzt und geschockt über die Terroranschläge in Paris und Nigeria. Wir trauern um die Toten des Terrors. Wir sind entsetzt und geschockt, wie die Achtung vor der Freiheit des Wortes mit Füßen getreten wird.

„Nous sommes Charlie – wir sind Charlie“ – das sind die Worte, die die Trauer um die Ermordeten und die Entschlossenheit zur Verteidigung der Freiheit ausdrücken. Unsere Freunde in Frankreich und auch wir werden auf eine harte Probe gestellt. Jede Diskussion in den nächsten Wochen wird geprägt sein von der Überzeugung, dass nur unter Achtung der Grundrechte Freiheit und Demokratie gelebt werden können, dem Terrorismus entgegen getreten werden kann.

Lassen Sie uns eine Zeitlang in Stille verharren, um unserer Trauer Ausdruck zu geben.

 

Ich halte hier und heute meine elfte und gleichzeitig letzte Neujahrsansprache. Dies könnte die Gelegenheit sein für einen persönlichen Rückblick, das allerdings möchte ich nicht tun. Denn bis zum Ende meiner Amtszeit am 20. Oktober 2015 ist noch eine Menge Zeit, in der ich noch einiges vorhabe. Hier und heute geht es nicht um eine Person sondern um unsere Stadt, um Viersen.

Meine Damen und Herren, wir haben eben das Lied „Was keiner wagt“ gehört:

           

Dort heißt es: Was keiner sagt, das sagt heraus

 

Nun, was möchte ich Ihnen heute sagen? Ich möchte über Selbstvertrauen, Verantwortung und Menschlichkeit reden. Nicht spektakulär oder auf Effekte haschend, sondern ruhig und bestimmt.

Will eine Stadt die Zukunft meistern, braucht es vor allem eins: Selbstvertrauen. Selbstvertrauen schafft Motivation, gibt Kraft. Schlechtreden dagegen ist demotivierend -- und vor allem alles andere als konstruktiv. Wohlgemerkt: Selbstvertrauen hat nichts mit Schönreden zu tun. Denn wer schönredet, stößt immer an den Punkt, an dem die Realität mit Schönreden nicht mehr bewältigt werden kann.

Gesundes Selbstvertrauen setzt voraus, dass man sich offen und ehrlich mit der eigenen Situation auseinandersetzt. Sich auseinandersetzt mit dem, was man geschafft hat und daraus Vertrauen für das zieht, was noch zu leisten ansteht.

Und ich sage es frei heraus: Wir haben eine ganze Menge geschafft in Viersen.

  • Wir haben in wenigen Jahren drei Kitas gebaut und planen eine vierte. U3-Betreuungist bei uns Realität, wir stellen uns der Herausforderung moderner Kinderbetreuung. Ohne Overhead und Bau- und Bauunterhaltungskosten geben wir Jahr für Jahr als Stadt rund acht Millionen Euro für Kinderbetreuung aus. Wir tun das gerne – weil es am Ende um die Kinder und ihre Zukunft geht. Das haben wir geschafft.
  • Wir haben – ohne gesetzliche Verpflichtung – ein hochwertiges Kulturleben, nach wie vor eine sehr gute Bibliotheksversorgung, einen Skulpturenpark, ein Jazzfestival mit großer Ausstrahlung, ein Kulturprogramm für Kinder, insgesamt ein lebendiges und reichhaltiges Kulturleben und lassen uns dies eine ganze Menge kosten.
  • Wir stellen uns der Verantwortung, Flüchtlingen aus den Krisenherden dieser Welt Obdach und Heimat zu geben. Obwohl außenpolitische Aufgaben eigentlich Bundesaufgaben sind, wenden wir in diesem Bereich jährlich mit Unterkünften und Personal etwa 1,4 Millionen Euro an städtischen Mitteln auf. Wir tun das gerne und aus Überzeugung. Pegida-Parolen haben bei uns keinen Platz.
  • Wir haben uns intensiv auf den demografischen Wandel eingestellt – viel früher als viele in unserer Nachbarschaft. Nicht nur hier, im Umfeld der Festhalle, hat gezielte Baupolitik die Grundlagen für seniorengerechtes Wohnen in der ganzen Stadt geschaffen. Wir haben in der Verwaltung einen Pflegestützpunkt und eine Wohnberatung für Seniorinnen und Senioren. Wir tun das aus Überzeugung und werden da noch viel mehr tun.
  • Auch wenn es nicht städtische Aufgabe ist, Diskotheken und Kinos zu betreiben, wurden in Viersen Dinge für junge Menschen verwirklicht, die es so im ganzen Kreis nicht gibt. Beispiele sind das Beachvolleyballfeld, das freie Basketballfeld, demnächst die neue Skateranlage, die einmalige BMX- und Dirt-Bike-Anlage am Hohen Busch. Wir geben der Jugendkultur mit einer Graffiti-Galerie und dem Band Contest Raum für Kreativität und Entwicklung und unterstützen als Stadt das Festival „Eier mit Speck“. Nächste Woche wird mal wieder die große Kinder- und Jugenddisko hier in der Festhalle mit 800 bis 1000 Kiddies stattfinden. Suchen Sie diese Dinge mal im Kreis – wir haben das geschafft und sollten auch stolz darauf sein.
  • Wir halten durch Zuzug unsere Bevölkerungszahl stabil. Immer mehr Menschen aus dem Umland entdecken – auch dank unseres Handlungskonzeptes Wohnen – unsere Stadt als Wohnstandort. Wir haben das geschafft und wir sollten stolz darauf sein. Ohne diesen Zuzug würde mittelfristig vieles nicht mehr finanzierbar sein, Teile unserer Infrastruktur überflüssig.
  • Wir sind zwar knapp bei Kasse, doch städtebaulichen Stillstand können wir uns nicht leisten. Der IER wird wie der Bahnhofsvorplatz und der Gereonsplatz in diesem Jahr fertig werden. In Dülken ist der an die Innenstadt angebundene EDEKA-Markt, der mit 2200 Quadratmetern der größte Markt in der Gesamtstadt Viersen sein wird, im Bau. Das wird Dülken, wo die Situation im Handel sehr schwierig ist, auch nach Überzeugung des örtlichen Einzelhandels, wirklich gut tun. IER-Randflächen, menschenfreundlicher Rückbau der Großen Bruchstraße, weitere innenstadtnahe Bauflächen und vieles andere ist in der konkreten Planung. Wir haben das geschafft und können stolz darauf sein.

Fast alle Projekte sind durch Landes- und Bundesmittel mit bis zu 80 Prozent gefördert. Wir erhalten bei einem städtischen Einsatz von 200.000 Euro einen Wert von einer Million. Ein gutes Geschäft. Die Fördergeber fördern nur, wenn strenge Kriterien etwa des Programms soziale Stadt erfüllt werden. Der Fördergeber ist überzeugt, dass die Projekte in Viersen gut und sinnvoll sind und das ist im Übrigen auch meine Überzeugung.

Es wäre noch vieles zu nennen und beleuchten, aber es geht um eine zentrale Aussage: Trotz aller Schwierigkeiten und Engpässe steht Viersen gut da. Wir entwickeln uns nach vorne.

Wir haben allen Grund dazu, selbstbewusst zu sein. Nicht alles ist geschafft, nicht alles ist ohne Fehler, nicht alles gefällt jedem, aber wir gestalten und bewegen unsere Stadt. Wir haben allen Grund mit Selbstvertrauen auf die Gegenwart und die Zukunft schauen.

 

                        Was keiner sagt, das sagt heraus

 

Ich sage: Wir brauchen Verantwortung.

Ich glaube, dass wir gut beraten sind, wenn wir über uns, unsere Stadt, mit großer Verantwortung und nicht aus dem hohlen Bauch heraus diskutieren. Verantwortungsvolles Handeln ist nur möglich, wenn man sich um Objektivität bemüht.

Leider, und das ist nachvollziehbar, sind heute viele Menschen in der Welt, in Europa, in Deutschland und auch in Viersen verunsichert und haben verständlicherweise Furcht, fühlen sich unwohl, haben Zukunftsangst.

Weltweite Krisen, die Unsicherheit des lange als sicher betrachteten Friedens in Europa, die Angst um Ersparnisse, Euro und Stabilität, die Missachtung der Würde von Menschen, die in Zeitverträge und Dumpinglöhne gezwungen werden, die ungestrafte Transferierung von riesigen Gewinnen nach Luxemburg oder wohin auch immer, der ungeschminkte Handel mit unseren persönlichsten Daten, dieses und noch vieles mehr ist nicht zu verstehen, macht Angst, verunsichert und erzeugt Wut.

Aber Angst, Wut oder gar Hass sind in solchen Situationen schlechte Berater. Es darf Seelenfängern nicht gelingen, aus der Unsicherheit von Menschen politisches Kapital zu schlagen. Pegida ist ein Beispiel dafür. Das Asylrecht ist im Grundgesetz verankert und darüber ist nicht zu diskutieren. Zu diskutieren ist, wie wir Menschen, die sich verunsichert fühlen, das Gefühl geben können, sich gut vertreten zu fühlen.

Dann aber darf man auch nicht leichtfertig Erwartungen wecken, die bei genauerem Hinsehen nicht oder nur mit ungeahnten Auswirkungen zu erfüllen sind. So wird Vertrauen zerstört.

Sie wissen, dass unsere Finanzsituation schwierig ist. Aber sie ist nicht deshalb schwierig, weil irgendjemand mit Geld um sich wirft, weil Geld verschwendet wird, sondern deshalb, weil unsere Aufgaben immer größer werden, ohne dass Bund und Land uns angemessen entlasten.

Dazu ein Beispiel: Weil Eltern sich nicht um ihre Kinder kümmern können oder nicht kümmern wollen, weil das Wohl des Kindes durch Vernachlässigung oder Aggressivität gefährdet ist, muss die Stadt Kinder aus Familien herausholen. Auch unter Viersens Dächern spielen sich Dinge ab, die schlichtweg nicht beschreibbar sind. Wir müssen – denn es geht um die Kinder – unter dem verharmlosenden Titel „HZE“ die Gesundheit und Seele der Kinder durch Heimunterbringung oder andere Maßnahmen vor den eigenen Eltern in Schutz nehmen. Mit begleitenden Personalkosten belastet uns dies mit 13 Millionen Euro pro Jahr.

Zusätzlich wenden wir für Jugendsozialarbeit, Jugendpflege, Familienberatung und andere Maßnahmen des Jugendamtes mit Personalaufwand nahezu 1,2 Millionen Euro pro Jahr auf.

Diese Positionen sind mehr als das Achtfache von dem, was wir an Investitionen für Straßen, Plätze, Infrastruktur und Fahrzeuge im Investitionshaushalt veranschlagen.

Wir Städte und Gemeinden werden zum Reparaturbetrieb für gesellschaftliche Fehlentwicklungen, ohne dass uns Land und Bund nennenswert unterstützen.

Das muss gesagt werden, das muss vermittelt werden. Die Forderung nach einem schuldenfreien Haushalt ist schnell gestellt und populär. Verantwortungsvoll ist, wenn man auch dazu sagt, wie man das erreichen will. Das allerdings ist schwer und unbequem, ein Spagat zwischen Erwartungen und Möglichkeiten, führt auch zu Enttäuschungen und Kritik. Das auf sich nehmen heißt Verantwortung tragen.

[Lied Polmans/Brauwers: Hallo Du]

HALLO DU

 

Hallo Du Königin, Du König,

herzlich Willkommen, da wo's schön ist.

Jeder Ort ist Deine Wiege,

all das ist Liebe, alles ist Familie.

Wo Du auch herkommst, ob Milky Way, ob Melmak,

auf Dich hab' ich mich schon gefreut, bevor Du auf der Welt warst.

Und der Song ist, dass Du Dich nicht verloren fühlst.

Wenn Du's doch mal tust, Du weißt, wo die Rose blüht.

Kämpf für Deine Träume,

lausch auf Dein Herz, pflanz ganz kleine Bäume.

Irgendwann werden sie den Himmel küssen

und das Gras kitzelt Dich an Deinen Kinderfüßen.

Kann schon sein, dass manche uns nie verstanden,

doch das ist egal, weil wir uns immer wieder fanden.

Die Erde flüstert, komm' in meine Arme,

weil hier ist Platz, sogar für sieben Milliarden.

 

Und wenn die Sonne lacht, dann weißt Du, wo ich bin.

Und wenn der Wind Dich ruft, hör‘ einfach zu, mein Kind.

Der Regen klopft Euch wach, wo immer Ihr auch seid.

Hab‘ keine Angst, mein Schatz, ist alles längst bereit.

 

Meine Damen und Herren,  wieder ein sehr nachdenklicher Text.

„All das ist Liebe, alles ist Familie“ oder „Lausch auf Dein Herz, pflanz ganz kleine Bäume“. Es geht um den Einzelnen und alle, um das ICH und das WIR, es geht um Menschlichkeit und darum, wie wir miteinander umgehen.

„Die Erde flüstert, komm in meine Arme, weil hier ist Platz, sogar für sieben Milliarden“, das ist das, was wir vertriebenen und flüchtenden Menschen sagen sollten.

Es geht um Respekt, Achtung und Annehmen. Auch in der Politik, in der öffentlichen Diskussion. Dies gilt insbesondere in Wahlkampfzeiten. Diffamierung, bewusste Falschdarstellung, Unterstellungen, Beleidigung und Verletzung der privaten, persönlichen Sphäre von Mitbewerbern oder Mitbewerberinnen gehören nicht in die Werkzeugkiste von Wahlkämpfern. Es gibt Grenzen und die gilt es zu verteidigen. Pseudonyme, anonyme Briefe und erfundene Identitäten sind nichts anderes als das Eingeständnis der Unfähigkeit, sich von Gesicht zu Gesicht mit anderen sachlich auseinanderzusetzen.

Wahlkampf ist kein Wettkampf im Schlechtreden, sondern ein Wettkampf der besten Konzepte und Vorschläge. Wenn sich Kandidaten und Kandidatinnen mit Schmutz bewerfen, dann ist der Eindruck der Bürger, die Auseinandersetzung sei insgesamt schmutzig und habe mit einem sachlichen Wettbewerb nichts zu tun, mehr als verständlich.

Ich hoffe, dass trotz aller kritischen und sachbezogenen Auseinandersetzung der anstehende Bürgermeisterwahlkampf von Respekt und Anstand, von Menschlichkeit geprägt sein wird.

Ich hatte zu Beginn der Woche ein Gespräch mit Fritz Meies, der mir von seinem letzten Besuch in Kanev berichtete. Er war offensichtlich emotional von dem, was er gesehen und erlebt hatte, stark betroffen; seine Betroffenheit hat mich sofort auch erfasst und deshalb möchte ich Herrn Meies – ganz gegen alle Gewohnheiten bei Neujahrsansprachen – die Gelegenheit geben, von dem, was er gesehen hat, zu berichten.

 

[Bericht Fritz Meies zum Besuch in Kanew]

 

Sie erinnern sich: Im Lied „Was keiner wagt“ hieß es unter anderem:

            „Wenn alle geizen, wagt zu schenken,
            Wo alles dunkel ist, macht Licht“

 

Beherzigen Sie hier und heute den Satz: „Wagt zu schenken“. Am Getränkestand steht ein großer Spendenkarton. Nehmen Sie die Gelegenheit wahr, etwas Licht zu schenken für unsere Partnerstadt Kanev, in der zurzeit alles dunkel wird. Ich sag es mal ganz platt: die Getränke sind umsonst, ein Grund mehr zu schenken.

Ich wünsche uns allen, dass wir im Jahr 2015 die Kraft finden, unsere Augen für andere zu öffnen, dem Bösen in der Welt Zeichen des Guten entgegenzusetzen, selbstbewusst, von Verantwortung geprägt und auch menschlich zu sein. Dazu noch ein gerüttelt Maß an Glück, Gesundheit und Zufriedenheit.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein gutes Jahr 2015 und noch viel Vergnügen mit Sebastian Polmans und Timo Brauwers.

________________________________________________________________
Pressemitteilung Stadt Viersen
Inhalte geben den Stand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (13.01.2015) wieder.

nach oben